Zentral- und Osteuropa
Der nun vorliegende Band könnte mit "Ich zeichne das Gesicht der Zeit" nicht treffender betitelt sein: Roth schreibt über heute vergessene Orte und Menschen, über 'Juden auf Wanderschaft' und ein Ost-Europa, das damals im Zentrum des Kontinents lag und das es heute ansatzweise noch immer gibt - in der Ukraine oder in der Rumänien.
Eindrücklich und stets mit den passenden Worten, zeigt sich Roth als einer der ganz großen Autoren, etwa wenn er über die jüdischen Händler an einem Bahnhof, irgendwo in seiner galizischen Heimat schreibt: "Alle diese Stationen sind eng, schmal, sie bestehen aus einem Trottoir und ein paar Schienen davor, der Bahnsteig sieht aus wie das Fragment einer Straße mitten zwischen Feldern. Als wäre es just die Straßenecke vor der Börse, so stehen hier jüdische Händler, schwarze und rothaarige. Sie erwarten niemanden, sie begleiten keinen Freund, sie gehen zur Bahn, weil es zum Beruf eines kleinen Händlers gehört, zur Bahn zu gehen, den ankommenden Zug zu sehen, die aussteigenden Leute, diesen Zug einmal im Tage, die einzige Verbindung mit der Welt, der ihren Lärm mitbringt und etwas von den großen Geschäften, die rund um den Globus abgeschlossen werden. Der Zug bringt deutsche Zeitungen aus Wien, aus Prag und aus Mährisch-Ostrau."
Historisches Dokument
Dieses Buch ist das literarische, historische Portrait einer Zeit, die inzwischen rund 100 Jahre zurückliegt. Und es ist die Erinnerung an einer der ganz großen Schriftsteller, Essayisten und nicht zuletzt Reporter des 20. Jahrhunderts, der einen Vergleich mit Hemingway nicht zu scheuen braucht. (jpl)
Joseph Roth: "Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Essays, Reportagen, Feuilletons" (Diogenes: Zürich: 2013)
>> http://www.diogenes.ch